Zu Begriff und Erscheinung der Sophistik
Die Sophistik ist kein einheitliches, klar abgegrenztes und abgrenzbares Terrain der griechischen Kulturlandschaft. Die Beschreibung ihres zerklüfteten Erscheinungsbildes ergibt sich aus der Summe vieler partieller Merkmale. Gleichwohl verbindet eine innere Logik die auseinandertriftenden tektonischen Inseln, so dass sie konvergierend jeweils auch als Ausgangspunkt für die Erfahrung des Ganzen dienen können.
Ursprünglich wird das Wort ÏοÏιÏÏÎ®Ï in allgemeinem Sinn gleichbedeutend mit ÏοÏÏÏ gebraucht und bezeichnet jeden, der durch ein besonderes Wissen oder Können aus der Menge herausragt. Im fünften Jahrhundert gewinnt es die spezielle Bedeutung, um die es hier geht:
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Gründe für das Aufkommen der Sophistik
- Politisch-kultureller Aufschwung durch den Sieg über die Perser (und in Sizilien über die Karthager): Beginnende Großmachtpolitik
- Gesteigertes Bildungsbedürfnis und Neuorientierung der Bildungsziele im Zuge der zunehmenden Demokratisierung und politischer Teilhabe des einzelnen Bürgers (Lehrbarkeit von ἀρετή).
- Erweiterung des geographischen Horizontes und vergleichende ethnologische Interessen (Hekataios, Herodot). Folgen:
- Kulturrelativismus (ÏÏÏει-θÎÏει-Antithese) und
- Frage nach einem "Naturzustand" menschlicher Kultur
- Entstehung der Moral
- Ansätze einer Staatstheorie (vgl. Verfassungsdiskussion bei Herodot).
- Immanente Entwicklungstendenzen der Naturphilosophie in Richtung auf die Sophistik.
- Gleichlaufendes Interesse an:
- Erkenntniskritik (Empirismus - Rationalismus).
- Religionskritik (Xenophanes)
- Ethik (bes. bei Demokrit)
- Gegenläufige Tendenzen:
- Die in der Naturphilosophie sich verstärkende Tendenz, die phänomenale Welt gegenüber einer verborgenen "Wahrheit" abzuwerten (K.v.Fritz):
- Annahme eines beliebigen Urstoffes, dessen bloße Erscheinungsformen die gegebenen Dinge sind.
- Die in sich ruhende Seinskugel des Parmenides.
- Die hom*oiomerien des Anaxagoras
- Der Atomismus Demokrits ("Entweder ist nichts wahr oder das Wahre ist uns verborgen")
- Die in der Naturphilosophie sich verstärkende Tendenz, die phänomenale Welt gegenüber einer verborgenen "Wahrheit" abzuwerten (K.v.Fritz):
- Gleichlaufendes Interesse an:
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Lehrtätigkeit (gegen Bezahlung)
Protagoras selbst definiert seine Tätigkeit mit der Formel ÏαιδεÏειν á¼Î½Î¸ÏÏÏÎ¿Ï Ï (Plat.Prot.317b. Vgl. Plat.Prot.318d, Plat.Theait.161ff.; Plat.Euthyd.287a): Die Vermittlung technischen Wissens und technischer Fertigkeiten (ÏÎÏναι), die auf Erziehung zur Tüchtigkeit (á¼ÏεÏή), d.h. aber vor allem auf die Befähigung (δεινÏÏηÏ) zur erfolgreichen Teilnahme am demokratischen Leben abzielen:
[á¼ÏεÏή (εá½ÏÏ Î¯Î±) gilt nicht mehr als angeboren, sondern ist prinzipiell lehrbar. Dies ist eine notwendige Voraussetzung sophistischer Lehrtätigkeit.]- Angestrebte Kompetenz:
- ÏολιÏικὴ ÏÎÏνη: die Fähigkeit des εὠλÎγειν, um sich im politischen Prozess der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung durchsetzen zu können. Sie gilt Protagoras (im Gegensatz zu Sokrates) als διδακÏÏνÏε καὶ á¼Î¾ á¼ÏÎ¹Î¼ÎµÎ»ÎµÎ¯Î±Ï (Plat.Prot.323c, Plat.Prot.326e)
- ῥηÏοÏικὴ ÏÎÏνη: die Fähigkeit des Redners, seine Meinung (in der Volksversammlung, der Debatte) anderen glaubhaft zu machen und ihr Handeln in eine gewünschte Richtung zu lenken. [In Platons Protagoras definiert der angehende Schüler des Protagoras den Sophisten als den, der sich darauf verstehe, einen im Reden mächtig zu machen: á¼ÏιÏÏάÏην Ïοῦ Ïοιá¿Ïαι δεινὸν λÎγειν (Plat.Prot.312d)]
- δικαμικὴ ÏÎÏνη: die Fähigkeit, vor Gericht zu bestehen.
- Unterrichtliche Gegenstände:
- Dichterkritik
- Rhetorische Ausbildung an Musterreden (á¼ÏιδείξειÏ)
- Angestrebte Kompetenz:
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Rationalisten und Aufklärer ("Vom Mythos zum Logos")
Infragestellung aller überkommenen Werte (bloßer Konventionen) und aller Absolutheitsansprüche (Phänomene statt Ideen: Relativismus, Subjektivismus, Nihilismus)
- Religion: Kritisch aufklärerische Haltung gegenüber der überkommenen Religion. Agnostische Haltung (Protagoras B4), soziologische Erklärung (Kritias)
- Menschenbild (Moral, Arete): Im Gegensatz zu den Naturspekulationen (ÏÏÏιÏ) der Sophisten, ist für die Sophisten (wie für Sokrates) der Mensch (á¼Î½Î¸ÏÏÏοÏ) das zentrale Anliegen ("anthropologische Wende").
- Staat und Recht (Nomos - Physis - Antithese)
- der Physis-Begriff wird anthropologisch, biologisch-evolutionär verstanden: Gefühle, emotionale Impulse, Triebkräfte, Egoismen
[Erst bei Aristoteles kann "Physis" (unter insgesamt 6 Differenzierungen) statt einen konkreten Wesensbegriff anzugeben, eine das menschliche Leben übergreifende normativ verbindliche Ordnung bezeichnen. (Metaph. IV 1014 b 16 - 1015 a19)] - der Nomos-Begriff: staatlicher Nomos ist nicht mehr religiös sanktioniert, sondern bloße Konvention. Seine Verbindlichkeit beruht auf der staatlichen Durchsetzung. Damit kann er bloßes Machtinstrument werden.
[Der Konflikt zwischen beiden Auffassungen wird paradigmatisch in der Antigone des Sophokles (Soph. Ant.449-470) und im Melierdialog des Thukydides (Thuk. 5,85-113) vorgeführt]
- der Physis-Begriff wird anthropologisch, biologisch-evolutionär verstanden: Gefühle, emotionale Impulse, Triebkräfte, Egoismen
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Methode: Eristik / Rhetorik - Dialektik
- Der Philosoph erstrebt die (theoretische) Erkenntnis (möglichst absoluter) Wahrheit. Seine Methode ist die Dialektik
- Plat.Soph.253d: Τὸ καÏá½° γÎνη διαιÏεá¿Ïθαι
- Der Sophist sucht den Erfolg im (praktischen) Können. Dazu dienen ihm:
- Rhetorik (ῥηÏοÏικὴ ÏÎÏνη):
- Prot.VS80B6a: πρῶτος ἔφη "δύο λόγους" εἶναι "περὶ παντὸς πράγματος ἀντικειμένους ἀλλήλοις".
- Prot.VS80B6b: τὸν ἥττω ... λόγον κρείττω ποιεῖν
- Eristik: Die 'Streitkunst' ist die logische Konsequenz aus der skeptischen Ablehnung eines Wahrheitskriteriums (Ïὸ κÏιÏήÏιον): Es gibt keine These, deren Antithese nicht ebenso wahr ist. (Prot.VS80B6a; Gorg.VS 82 B3). Einen Eindruck vermitteln die drei Sätze (κεÏάλαια) des Gorgias.
- Rhetorik (ῥηÏοÏικὴ ÏÎÏνη):
- Kontrastierung der Grundausrichtungen:
Philosophie Sophistik deduktiv induktiv spekulativ empirisch rationalistisch sensualistisch dogmatisch skeptisch absolut relativ theoretisch praktisch
- Der Philosoph erstrebt die (theoretische) Erkenntnis (möglichst absoluter) Wahrheit. Seine Methode ist die Dialektik
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Enzyklopädisten:
Ein enzyklopädisches Wissen liefert den weitgespannten geistigen Hintergrund, der eine Persönlichkeit allen kulturellen und politischen Aufgaben gewachsen sein lässt (á¼Î³ÎºÏ ÎºÎ»Î¿Ï Ïαιδεία - ÏÎ¿Î»Ï Î¼Î±Î¸Î¯Î±):
- Kosmologie
- Grammatik
- Literatur, Poetik
- Mythologie
- Philosophie: Drei Unterscheidungsmerkmale kennzeichnen die Besonderheit sophistischen Philosophierens:
Gegenstand: á¼Î½Î¸ÏÏÏοÏ, ÏÏÎ»Î¹Ï statt
ÏÏÏιÏ, κÏÏÎ¼Î¿Ï Methode: empirisch induktiv
praktischstatt metaphysisch deduktiv
theoretischZiel Tüchtigkeit (á¼ÏεÏήv, δεινÏÏηÏ) statt Wahrheitsfindung (á¼Î»Î®Î¸ÎµÎ¹Î±, γνῶÏιÏ, á¼ÏιÏÏήμη) - Kulturentstehung (Staatsbildung)
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Einzelne und vereinzelte Lehrmeinungen:
- Lehrbarkeit der Tugend
- Prinzipieller Relativismus oder Nihilismus
- hom*omensurasatz des Protagoras
- Es gibt keinen Satz, dessen Gegenteil nicht ebenfalls wahr wäre (Protag.).
- Die drei κεÏάλαια des Gorgias
- Das staatliche (positive) Recht gilt nur θÎÏει. ÏÏÏει gilt das Naturrecht des Stärkeren (des wahren Herrenmenschen) (Thrasymachos, Kallikles)
- Der Mensch ist seiner Veranlagung nach egoistisch auf Triebbefriedigung ausgerichtet (Kallikles).
- Der Staat beruht auf einem Gesellschaftsvertrag (Lykophr.83A3).
- Den Göttern gegenüber ist Nichtwissen angesagt (Agnostizismus des Protagoras B4), oder sie gelten als Erfindung des Menschen (Kritias: Um den amoralischen Herrenmenschen zu domestizieren).
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Repräsentanten:
- Protagoras
- Gorgias
- Hippias
- Prodikos: Herakles am Scheideweg, bei Xenophon, Mem. 2.1.21-33
- Kritias
- Thrasymachos
- Polos
- Euthydemos
- Kallikles
- Antiphon
- Lykophron
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Rezeption:
- Auf Aristophanes, Sokrates, Platon, Aristoteles geht das negative Bild der Sophisten als bloße Rabulisten zurück: á¼ÏÏι Î³á½°Ï á¼¡ ÏοÏιÏÏικὴ ÏαινομÎνη ÏοÏία οá½Ïα δ' οá½, καὶ á½ ÏοÏιÏÏá½´Ï ÏÏημαÏιÏÏá½´Ï á¼Ïὸ ÏαινομÎÎ½Î·Ï ÏοÏÎ¯Î±Ï á¼Î»Î» οá½Îº οá½ÏηÏ, (Aritot.soph.elench.1,165a21).
- Euripides: Religionskritik; Mythenkritik (Eur.IphA.751-800; Eur.El.737); Umwertung des Heroischen (Eur.IphA)
- Thukydides
- Th. v. Aquin bezeichnet Sophisten als "qui apparentes scientes et non sunt" (1
anal. 13 e). - M. Stirner lehrt als Vertreter des Philosophischen Egoismus im Sinne der Sophistik die Souveränität des Individuums. (Schuster, S.269)
- Fr. Nietzsche bezeichnet die Sophistik als "unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen." [Götzen-Dämmerung, Nietzsche-W Bd. 2, S. 1029]
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